Wieder verpasse ich einen Trend und kann damit wunderbar leben – was bin ich doch für ein komischer Außenseiter. Hilfeeeee, ich gehöre nicht dazu!
Pokémania greift wieder um sich und die Schäfchen werden eingefangen wie schon beim Rattenfänger von Hameln. Im Prinzip nichts Neues und doch schaltet das Herdentier Mensch seinen eigenen Verstand aus, lässt sich anstecken und denkt dabei sogar, aus eigenen Stücken zu handeln. Genau dasselbe wie im Frühjahr, wenn sich wie immer die trendgeilen Massen von findigen Geschäftsleuten und deren Marketingmaschinerie sogar freiwillig einreden lassen, welche sogenannte Trendfarben sie diesen Sommer zu tragen haben, welches Material in ist und welchen Schnitt die Dame von Welt trägt. Hallo, geht’s noch? Hat auf dieser Welt denn keiner mehr einen eigenen Geschmack? Ist es wirklich erstrebenswert, Schuhe der Marke X und Shirts der Marke Y zu tragen? Für was? Fürs eigene Ego oder was? Bin ich denn niemand ohne diese Marke? Ist es wünschenswert neue Dinge in den Müll zu geben, die ich nur ein paar Mal getragen habe, aber für die unsere Umwelt in einem erheblichen Ausmaß geschädigt wurde? Oder sie zum Kilopreis in andere Dritte-Welt-Länder zu entsorgen, um dort die lokale Bekleidungsindustrie zu zerstören? Ganz ehrlich, es macht mich krank!
Der kleine Mann wettert gegen die pösen, pösen Oberen, die sich ständig nur an uns armen Würstchen bereichern, uns aussaugen, uns bevormunden, uns schlecht regieren, uns in die Armut treiben, uns belügen, etc, etc, wobei sie hingegen immer reicher und mächtiger werden. Der kleine Mann ist aber der erste, der sich eine neue Hose oder Handtasche kauft, obwohl die im Schrank hängenden Massen für eine ganze Kompanie reichen würden, wären sie gerade in der richtigen Farbe oder in der nun angesagten Marke … Gespart wird lieber am Essen oder anderswo als an Trendprodukten – wie ärmlich! Der kleine Mann macht so die Oberen ganz freiwillig wieder ein wenig reicher und gibt ihnen noch mehr Macht. Sind wir alle schitzophren? Herdentreue Tiere sind leichter zu führen und zu manipulieren als die individuellen schwarzen Schafe.
Eltern verstärken ganz absichtlich immer weiter dieses Herdentum – ich wünschte es würde endlich Hirn regnen!
„Wir können es uns leisten …“, „Meine Tochter gehört dazu …“, „Seht mal, wie cool mein Junge in seinen neuen XY aussieht …“ Marken werden zu Persönlichkeitsmerkmalen stilisiert, die wahre Persönlichkeit, sofern nicht schon direkt nach der Geburt manipulativ gekillt, tritt immer mehr zurück. Man ist nicht cool, wenn man anders ist, wenn man Charakter zeigt, nein, am coolsten sind die Herdentiere, die jeden, aber auch jeden Trend mitmachen. Entweder du gehörst dazu oder bist raus! „Was, du spielst nicht Pokémon-Go? Du Loser du, du bist nicht mehr mein Freund!“, „Hast du schon gehört? Die Vanessa hat immer noch das Vorjahresmodell, hihi …“ Wer es sich nicht leisten kann, besorgt sich die Trendprodukte illegal – Werte verkommen, „man schädigt ja nur die reichen Geschäftsleute, da ist wohl das Dein und Mein zu vernachlässigen …“
Handymarken, Spiele, Mode sind zu Bestimmungsfaktoren geworden, ob wir dazugehören oder nicht. Hinter unserem Rücken oder wie es unter Kindern eher üblich ist – ganz offen – wird über uns Trendverweigerer hergezogen. So werden Außenseiter geschaffen, nicht weil sie sich irgendwie sozialwidrig verhalten würden, nein, einfach nur weil sie eigenen Geschmack und Selbständigkeit zeigen. Es fordert Mut, individuell zu sein und sich trendwidrig zu verhalten, den bringen die Wenigsten auf. Diese Entwicklung hat mir schon mein ganzes Leben Angst gemacht. Und jetzt macht sie mir noch mehr Angst, da die Auswirkungen dieses Wahnsinns und das Verkommen der wahren Werte scheinbar unaufhaltsam fortschreitet.
Ich sehe noch mehr als sonst – oder bilde ich mir das nur ein … – arme Jugendliche (arm an direkter Kommunikation, arm an direkten physischen Freunden zum Anfassen, mit denen sie sich noch treffen und sich beim Sprechen tatsächlich gegenseitig in die Augen schauen …) gebannt auf ihr Smartphone (natürlich das neueste Modell der Marke „Blubbs“) starrend über Gehwege, Kreuzungen oder worüber auch immer stolpern. Wahrlich glimpflich laufen solche Blindflüge noch ab, wenn sie dabei mit ihrem Kopf nur gegen den nächsten Laternenmast rennen (wäre ja ein Fortschritt, wenn das so unfreiwillig in Schwingung geratene Hirn dadurch genötigt würde, endlich mit seiner eigentlichen Aufgabe zu beginnen …). Angst macht mir mehr, wenn gleichzeitig der von links heranrasende PKW ebenfalls gerade führerlos ist, weil der angebliche Steuermann dem Trend folgt, jede Nachricht in Echtzeit zu beantworten. Wo driftet diese Gesellschaft nur hin?
Gutmenschen (wie ich dieses Wort hasse …) argumentieren bei ihrem Griff zum neuesten Markenprodukt damit, dass mit No-Name-Produkten die Ausbeutung der armen Menschen in Dritte-Welt-Ländern gefördert würde und sie deshalb aus gutem Gewissen freiwillig mehr Geld ausgeben würden. Sie verkennen dabei, dass der Preis der so tollen Markenprodukte sich oft aus 90% Marketingkosten im weiteren Sinne (mit Gewinnspanne) zusammensetzt, die Produkte meist in denselben Fabriken unten den identisch schlechten Arbeitsbedingungen hergestellt werden wie das ohne den ganzen Marketingwahn auskommende No-Name-Produkt. Doch die Marken- und PR-Manager leisten hervorragende Arbeit, dies zu verschleiern, und jeden der so etwas über ihre eigene Marke behauptet mit ihren unendlich erscheinenden Finanzmitteln zum Schweigen zu bringen. Hauptsache, das eigene Gewissen mit fadenscheinigen Argumenten selbst überlistet und dem Trend weiter folgen – „ich gehöre dazu, ich bin toll, ich bin trendy!“
Manchmal bin ich richtig stolz, so ein schwarzes Schaf zu sein, das nahezu jeden Trend verpennt und mich frühere Kommilitonen nach vielen Jahren sogar noch am selben schon damals jede Mode ignorierenden Kleidungsstil (Jeans und nicht in den Hosenbund geschobenes Hemd an kälteren Tagen gepaart mit einem Sakko) erkennen können. Ich bin so dreist und gebe zu, dass ich meinen eigenen Geschmack habe und den auslebe und mir sogar erlaube, meine Kleidung so lange zu tragen, bis sie verschlissen ist – oups ist das langweilig und so total untrendy … und verzeiht, liebe Markenmanager, dass ich so ein schlechter Kunde für euch bin, aber das bin ich von ganzem Herzen!