Wohl jeder, der im Bereich der sozialen Netzwerke (um zur Abwechslung mal einen Anglizismus zu vermeiden) unterwegs ist, kennt sie. Die besonders „guten“ Menschen, die sich gerade um irgendetwas große Sorgen machen, die eventuell selbst betroffen sind oder einfach nur schnell durch einen simplen Post die Welt retten wollen. Wir alle lesen mal mit mehr, mal mit weniger Anteilnahme und/oder emotionaler Bestürzung ihre Beiträge.

Da heißt es, „Jeder, der das liest und das ebenso sieht wie ich, muss dies nun Teilen!“, „Jeder,  der auch nur ein bisschen Herz hat, wird …“ oder „Ich kann mir schon denken, wer von meinen Freunden das liest wirklich xy machen wird …“ Diese Beiträge sehen für manche auf den ersten Blick total harmlos aus und da sie inhaltlich oft genug zustimmen, teilen sie sie gerne und beteiligen sich damit munter selbst an … einer emotionalen Erpressung! Oft geht es sogar so weit, anzudrohen, dass die bösen, bösen Leser, die  nicht xy machen, selbstverständlich umgehend von der Freundesliste entfernt werden. Schon interessant, dasss jemand, der gerade im Urlaub ist und keine Lust auf soziale Medien hat, oder der durch die immer weiter umgreifende Willkür der Seitenbetreiber, die Reichweite der Posts einzuschränken, durchs Rost gefallen ist und den doch so ungemein wichtigen Beitrag gar nicht lesen konnte, sich plötzlich in der sozialen Isolation befinden soll. Von allen entfreundet – keine Internetfreunde mehr – ahhhh was muss ich für ein Loser sein!

Alle, die nun in Panik verfallen und schon anfangen, bitter zu bereuen, den letzten hundert emotionalen Erpressungen des heutigen Vormittags nicht entsprechend Folge geleistet zu haben, kann ich beruhigen: So gut wie nie, werdet ihr von der Freundesliste gestrichen oder sonst wie öffentlich geächtet. Puh … tief durchatmen: Nochmal gutgegangen, gerade so die Kurve gekriegt, dem SuperGau entkommen!

Wir leben heute in einer omnipräsenten medialen Welt. Egal welche Neuigkeiten es gibt, oder machmal muss es leider auch heißen, egal welche Falschmeldungen gerade lanciert werden, sie erreichen uns fast alle. Unser Smartphone verbringt deutlich mehr Zeit mit uns als unsere Partner und Kinder. Egal ob man das nun gut oder schrecklich findet, es wird sich nicht ändern, zumindest auf absehbare Zeit. Können wir bei dieser Informationsüberflutung tatsächlich auf jede einzelne Meldung eingehen? Dringen sie überhaupt alle in unser Bewusstsein? Nein, definitiv nicht, somit entgeht uns auch der ein oder andere Erpressungsversuch meist ohne irgendwelche Folgen für uns.

Was treibt jemanden an, einen solchen Erpressungsversuch zu starten? Wir alle erpressen unsere Mitmenschen tagtäglich mit unserem Verhalten und mit unseren Worten. Klingt schockierend, ist aber so! Viele sind sich dessen nicht einmal bewusst. Doch ist es etwas anderes, jemanden durch eine Mimik begreiflich zu machen, dass das eben Gesagte nicht meine Zustimmung findet und ich so meinem Gesprächspartner nahelege, noch einmal darüber nachzudenken, oder ich ihn direkt erpresse, in dem ich ihm mit einem möglichst emotional gestalteten Beitrag klarmache, dass wenn er mir da nicht zustimmt, er ein schlechter Mensch und er somit meiner virtuellen oder gar realen Freundschaft nicht mehr wert sei.

Die ursprünglichen Verfasser dieser Beiträge sind wohl oft selbst Betroffene, Menschen wie du und ich in schwierigen Lebenssituationen. Das Erstellen und anschließende Bestreben seine eigenen Worte möglichst weit zu verbreiten, soll meist der Beruhigung des eigenen Gewissens dienen, oft auch der eigenen Heilung. Meist ist es aber ein Schrei nach Aufmerksamkeit, ab und zu verbirgt sich sicher auch ein WebTroll dahinter. Was auch immer es ist, viel mehr interessiert mich die nächste Frage, denn die gibt dem Erpresser erst Nahrung.

Was treibt jemanden dazu, sich erpressen zu lassen? Das Fatale an dem Ganzen ist wohl, dass die Wenigsten, die solch einen Beitrag bekommen, ihn ausreichend hinterfragen. Es ist natürlich toll, sich dafür stark zu machen, dass nun mal alle, die irgendjemanden kennen, der an Krebs leidet oder jemanden kennen, der ein Bekannter ist, von jemandem der Krebs hat, also in ganz einfachen Worten – jeder von uns – fünf Minuten innehält und all jenen Betroffenen dieser schrecklichen Krankheit gedenkt. Somit ist es sehr einfach und liegt nahe, einen solch emotional erpressenden Beitrag zu teilen!

Viele machen sich gar keine Gedanken und drücken den Teilen-Knopf nur allzu gerne. Dass sie selbst damit zu emotionalen Erpressern werden, wird teils billigend, teils verdrängend in Kauf genommen. Das beruhigende Gefühl, etwas anscheinend Gutes geteilt zu haben, rechtfertigt die nächste emotionale Erpressung. So haben schon Kettenbriefe funktioniert und werden wohl auch niemals auf die rote Liste der aussterbenden Spezies kommen.

Ich persönlich wehre mich dagegen. Ja, ich gebe es zu, ich bin so dreist und lasse mich nicht erpressen. Egal von wem. Wann immer ich auch nur sinngemäß irgendwo über den Teilsatz „Wer das nun liest und zustimmt, soll/muss …“ stoße, wird der Beitrag ignoriert, ja ich versuche ihn sogar bewusst zu vergessen oder zu verdrängen. Erpressung ist nicht – zumindest nicht mit mir. Wenn die meisten so handeln würden, wäre dieses leidige Thema schnell vom Tisch. Macht bitte alle mit und entzieht dem Mekka für emotionale Erpressungen das Futter – trocknet diesen Sumpf aus!

Dieser Beitrag ist auch in Huffington Post erschienen: Hier geht’s zum Huffington Post Artikel.