Trauer ist nicht schön, aber wir brauchen sie, um manche Dinge verarbeiten zu können. Es ist wie eine Heilung, eine Heilung von etwas Unabwendbarem, was geschehen ist, wir am Liebsten wieder ungeschehen machen möchten, doch es geht einfach nicht. Schluss, aus, vorbei. Manche Dinge sind absolut – nicht umkehrbar.
Vor Kurzem begab ich mich auf eine Trauerreise nach Ostafrika. Inzwischen habe ich genug Abstand gewonnen, so dass ich darüber schreiben kann. Es war eine Reise, die mich sehr bewegte, war es doch eine Beerdigung in einem völlig anderen Kulturkreis. Gut, mir ist Afrika nicht gerade unbekannt, und doch gibt es dort so unglaublich viele Dinge, die so anders sind, dass wir Europäer uns kaum daran gewöhnen können. An viele Dinge wollen wir uns auch gar nicht gewöhnen.
Es ging über Addis Ababa in Äthiopien und Nairobi in Kenia nach ein paar Stunden auf einer Terrasse am Flughafen in der sengenden Hitze der afrikanischen Sonne schließlich weiter nach Kisumu am Viktoriasee, der drittgrößten Stadt Kenias ganz im Westen unweit der Grenze zu Uganda.
Kenia ist afrikatypisch ein Vielvölkerstaat. Es gibt viele unterschiedliche Stämme, die nicht nur von ihren Traditionen, Bräuchen und Gewohnheiten sondern auch von ihren körperlichen Merkmalen unterschiedlich sind. Wir geleiteten eine Dame vom Stamme der Luo auf ihrem letzten Weg tief im Lande der Luhyas. Diese beiden benachbarten Stämme vermischen sich schon das ein oder andere Mal, sie stehen sich zumindest nicht in Abneigung gegenüber, wie so manch andere Volksgruppen. Und so hatte die Luodame vor vielen, vielen Jahren durch Heirat ihre neue Heimat bei den Luhyas gefunden.
Wir wurden in einem Kleinbus abgeholt, um von Kisumu über, mit tiefen Schlaglöchern versehenen, Lehm- und Schotterstraßen ins Luhyaland zu fahren. Worauf ich nicht vorbereitet war, meine Sitznachbarin war die Verstorbene, die in einem aufwändig gestalteten Sarg ebenfalls in dem Kleinbus transportiert wurde. Man hatte afrikatypisch pragmatisch einfach ein paar hintereinander liegende Sitze des normalerweise nur für Passagiere vorgesehenen Kleinbusses ausgebaut, um so Platz für den Sarg zu schaffen. Auf den übrigen verbliebenen Sitzplätzen mussten wir Passagiere Platz finden.
Wie soll ich das beschreiben? Nein, eigentlich fehlen mir die Worte auszudrücken, was ich empfand. Als Europäer, bei dem der Tod eher etwas ist, was möglichst still und leise im Kämmerchen abseits der Öffentlichkeit stattfindet, sich auf einmal bei über dreißig Grad im Schatten in einem dichtgedrängten Kleinbus wiederzufinden, auf einer Fahrt, auf der man ob des Zustandes afrikanischer Buschstraßen ständig wild von einer Seite auf die andere geworfen wurde und immer wieder mit einem verrutschenden Sarg kollidierte – unangenehm, beklemmend und doch zwang mich diese Situation auch zur Demut. Um mich herum nur Leidende mit verweinten Augen, die ihre Mutter, Tante oder Freundin verloren haben, und ich machte mir in dieser Situation Gedanken darüber, wie unterschiedlich doch alles in unseren beiden Kontinenten ist.
Es war Regenzeit in Ostafrika und die Schlaglöcher besonders tief. Ausgefahren und vom heftigen Regen aufgeweicht und ausgeschlemmt. Teilweise kaum passierbar. Ständig setzten wir auf, Steine schrammten knirschend am Unterboden entlang. Ich hoffte inständig, dass nicht die Benzinpumpe oder sonstige wesentliche Teile in Mitleidenschaft gezogen würden, oder gar der Tank unten aufgerissen würde. Die Geräusche, die das blanke Metall hinterließ, wenn es durch die vom Regen freigelegten Felsbrocken auf der Buschstraße zerschunden wurde, hallten ständig in unseren Ohren und doch konzentrierte sich kaum jemand darauf. Immer wieder glitten unsere Blicke zu dem Sarg. Hatte die darin liegende Person wirklich ihren Frieden mit dieser Welt gefunden, bevor sie endgültig dahinschied? Wir werden es wohl nie erfahren.
Endlich sagte man mir, wir seien gleich da. Wir bogen in einen völlig verschlammten Weg ab, den ich sogar mit jeder Motocross Maschine nur ungern befahren hätte, geschweige denn mit einem völlig überfüllten Kleinbus. Wir waren nun rund fünfhundert Meter von der Farm entfernt, auf der die Verschiedene bis zu ihrer Krankheit gelebt hatte und auf der sie auch beerdigt werden sollte. In Kenia wird man auf dem eigenen Grund beerdigt. Öffentliche Friedhöfe sind nur etwas für die Armen, die keinen eigenen Grund besitzen und mehr und mehr auch für die Bewohner der Großstädte.
Wir hielten aus mir unerklärlichen Gründen kurz an. Was nun passierte, habe ich in einer solchen Dimension noch nie erlebt. Die älteste Tochter der Verstorbenen begann immer heftiger zu schluchzen, riss unvermittelt die Beifahrertür auf und sprang aus dem Wagen in den Schlamm. Ihr Wehklagen wurde dabei immer lauter, sie hockte sich auf dem Weg vor dem Kleinbus nieder, umfasste ihre Beine mit beiden Armen und stieß Schreie aus, in einer durchdringenden Intensität, wie ich sie, subjektiv empfunden, nicht einmal mit Todesschreien in einem Horrorfilm vergleichen würde. Ein derart herausgeschrienes Leid ließ mich in meiner angespannten Situation bis ins Mark erschüttern. Sie erhob sich und ging weiterhin laut wehklagend, nein, ich muss es als brüllend bezeichnen, den Schlammweg entlang in Richtung Farm. Mich erstaunte, wie aus dem Körper einer normalen Frau ein derart markdurchdringendes Brüllen kommen konnte. Es war, als würde sich ihre ganze Energie der letzten Jahre nun in dieses Wehklagen konzentrieren. Unheimlich.
Aus den Häusern entlang des Weges und noch kleineren Seitenwegen kamen vereinzelt Frauen, die durch das Wehklagen aufgeschreckt wurden. Und es wurden immer mehr Frauen des Dorfes, Nachbarinnen, Freundinnen, weitere oder nähere Verwandte, die sich der Erstgeborenen anschlossen und ebenfalls in deren Wehklagen einstimmten. Es bildete sich eine immer größer werdende Menschentraube, die ihr gemeinsames Leid derart ungefiltert herausschrie, dass ich es nicht zu fassen vermochte.
Betroffen blicke ich zu einer der anderen Töchter der Verstorbenen, die bereits seit zwei Jahrzehnten in Europa lebte. Diese zuckte nur mit den Schultern und sagte: »Manche Traditionen enden wohl nie. Das war das letzte, was ich erwartet hatte!«
Wir fuhren mit unserem Leichentransport im Schritttempo hinter den laut trauernden Frauen her. Nach weiteren hundert Metern ging gar nichts mehr. Wir saßen mit dem Wagen auf einer Bodenwelle auf, mussten alle aussteigen und gingen den Dorffrauen hinterher. Hinter uns erreichte irgendwann auch der nun nicht mehr so tief liegende Kleinbus die Farm, mehr auf dem Schlamm rutschend als fahrend, und der Sarg wurde unter einem Zelt aufgebahrt, damit sich jeder von der Verstorbenen verabschieden konnte. An diesem Tage und am nächsten, dem Tag der Beerdigung erklangen immer wieder neue, laute Schreie der Trauer, wann immer eine neue Besucherin der Trauerfeier zur Verabschiedung an den Sarg kam. Die anderen Frauen stimmten immer und immer wieder in jeden neuen Wehklang ein, den eine von ihnen startete.
Ganz ehrlich, ich fühlte mich durch diesen extrem lauten und scheinbar nie endenden Wehklang noch unwohler, als ich mich in Anbetracht einer Beerdigung ohnehin schon fühlte. Eine Betroffenheit und Unsicherheit breitete sich in mir aus. Ich wusste nicht, wo ich hinblicken sollte. War es unschicklich die so lauthals trauernden Damen anzublicken? Ich wusste es nicht – andere Kulturen, andere Sitten. Als es mir zu viel wurde, ging ich einfach auf der riesigen Farm spazieren, suchte ruhige Plätze, an denen ich mich zurückziehen konnte, um die eben gemachten Eindrücke zu verarbeiten, abseits dieser Geräuschkulisse und der hunderten von Trauergästen. Auf dieser Beerdigung passierten noch andere interessante Dinge vom Buschcatering bis hin zu Voodoo-Abwehrmaßnahmen. Mal sehen, ob ich irgendwann die Muse finde, auch darüber zu berichten.
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Im Hintergrund der weiße Leichenwagen-Kleinbus.
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